
Frühling auf dem Friedhof: und das Leben, bisher verharrend in solidarischem Schweigen mit den Toten, bricht sich wieder Bahn, Frühlingsstürme knicken das morsche Holz und schaffen Raum für Neues, die Vögel zwitschern, pfeifen, singen in ihrer jahrmillionenalten Unbekümmertheit um musikalische Trends.
Die Blumen blühen um die Wette für ihre fliegenden und flanierenden Fans und zeigen krasseste Farben. Darunter die Toten, sie ruhen aus von all dem Lebenskrach und suchen sich, man mag es träumen, nur zarte Töne, um zu erscheinen, in einem Rauschen oder Zirpen, einem Wispern oder Singen.


Zu den Bildern vom Frankfurter Hauptfriedhof „erklingt“ diesmal die Wortmusik einer Passage aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, entstanden in den Dreißiger Jahren.
Solches Parlando, und man höre dazu als Ergänzung auch die Lesung auf CD mit dem österreichischen Zungenschlag Wolfram Bergers, kennt in der deutschen Literatur nicht seinesgleichen an ironisch geschärfter Tiefgründigkeit, Einfachheit und Präzision.
Agathe, die Schwester der Hauptfigur Ulrich, besucht in einem Moment tiefster Einsamkeit das Waldgrab eines romantischen Schriftstellers am Rande Wiens:


"So mochte Agathe wohl noch gegen eine Stunde gestiegen und gewandert sein, als sie sich plötzlich vor jener kleinen Buschwildnis fand, die sie im Gedächtnis getragen hatte. Sie umhegte ein vernachlässigtes Grab am Rande des Waldes, wo sich vor fast hundert Jahren ein Dichter getötet hatte und nach seinem letzten Wunsch auch zur Ruhe gebettet worden war.
Ulrich hatte gesagt, daß es kein guter, wenn auch ein gerühmter Dichter gewesen sei, und die immerhin etwas kurzsichtige Poesie, die sich in dem Verlangen ausdrückt, auf einem Ansichtspunkt begraben zu sein, hatte an ihm einen scharfen Beurteiler gefunden.
Aber Agathe liebte die Inschrift auf der großen Steinplatte, seit sie gemeinsam ihre von Regen verwaschenen schönen Biedermeier-Buchstaben auf einem Spaziergang entziffert hatten, und sie beugte sich über die schwarzen, aus großen kantigen Gliedern bestehenden Ketten, die das Viereck des Todes gegen das Leben umgrenzten. ...


... „Ich war euch nichts“ hatte der lebensunzufriedene Dichter auf sein Grab setzen lassen, und Agathe dachte, das könne man auch von ihr sagen. Dieser Gedanke, am Rande einer Waldkanzel, über den grünenden Weinbergen und der fremden, unermeßlichen Stadt, die in der Vormittagssonne langsam ihre Rauchschweife bewegte, rührte sie von neuem.
Sie kniete unversehens nieder und lehnte die Stirn gegen einen der als Kettenträger dienenden Steinpfeiler; die ungewohnte Stellung und die kühle Berührung des Steins täuschten ihr den etwas steifen, willenlosen Frieden des Todes vor, der sie erwartete.
Sie versuchte sich zu sammeln. Es gelang ihr aber nicht gleich: Vogellaute drangen an ihr Ohr, es gab so viele verschiedene Vogellaute, daß es sie überraschte; Äste bewegten sich, und da sie den Wind nicht wahrnahm, kam ihr vor, daß die Bäume selbst ihre Äste bewegten; ...


... in einer plötzlichen Stille war ein leises Trippeln zu hören; der Stein, den sie ruhend berührte, war so glatt, daß sie das Gefühl hatte, zwischen ihm und ihrer Stirn liege ein Eisstück, das sie nicht ganz heranlasse.
Erst nach einer Weile wußte sie, daß sich in dem, was sie ablenkte, gerade das ausdrückte, was sie sich vergegenwärtigen wollte, jenes Grundgefühl ihrer Überflüssigkeit, das, wenn man es auf einfachste bezeichnete, nur mit den Worten auszusprechen war, das Leben wäre auch ohne sie so vollständig, daß sie darin nichts zu suchen und zu bestellen hätte.
Dieses grausame Gefühl war im Grunde weder verzweifelt noch gekränkt, sondern ein Zuhören und Zusehen, wie es Agathe immer gekannt hatte, und bloß ohne jeden Antrieb, ja ohne die Möglichkeit, sich selbst einzusetzen. Beinahe lag eine Geborgenheit in dieser Ausgeschlossenheit, so wie es ein Staunen gibt, das alle Fragen vergißt. Sie konnte ebensogut weggehen. Wohin? Irgendein Wohin mußte es wohl geben."




Fotos: J. Schmidt ©
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